Recruiting

Warum es sich lohnt, Schulabbrecher*innen eine Chance zu geben

Warum es sich lohnt, Schulabbrechern eine Chance zu geben

Menschen ohne Schulabschluss sind quasi zur Arbeitslosigkeit verdammt – diese Grundannahme herrscht schon lange in Deutschland vor. Doch es tut sich was auf dem Arbeitsmarkt, denn immer mehr Ausbildungsplätze bleiben unbesetzt: Fachkräfte fehlen, insbesondere im Handwerk. Diese Problematik löst langsam ein Umdenken aus. Einige Arbeitgeber fahren neue Recruiting-Strategien. Danach soll auch das Potenzial von Kandidat*innen ohne Abschluss erkannt und genutzt werden. Wie das aussehen kann, haben wir uns genauer angeschaut.

Kein Abschluss, keine Chance?

Die Zahl der Schulabbrüche ist zuletzt gestiegen. Etwa 100.000 junge Menschen verließen laut Aussage der Landesjugendämter in den Jahren 2018/2019 jeweils die Schule ohne einen Abschluss. Aufgrund von Corona rechnen sie für die Jahre 2020/2021 sogar mit einer Verdopplung dieser Zahl. Schulabgänger*innen werden stigmatisiert und gelten häufig als faul und wenig intelligent. Dabei muss das nicht zwangsläufig der Fall sein: Viele Faktoren wie ein schlechtes Elternhaus, traumatische Erlebnisse oder eben eine Pandemie können Einfluss auf die schulischen Erfolge haben. Zwar ist es möglich, den Abschluss nachzuholen, doch viele Betroffene tun sich damit schwer – sei es aus Scham, Geldnot oder Versagensangst. Wer nicht wenigstens die Berufsschulreife – zumeist und im Folgenden Hauptschulabschluss genannt – nachweisen kann, ist für viele Firmen ein rotes Tuch, die Chance auf einen Job oder einen Ausbildungsplatz also verschwindend gering. Im Jahr 2016 gingen nach Angaben der Datenbank für Auszubildende des Bundesinstituts für Berufsbildung gerade einmal 3,1 Prozent aller neu abgeschlossenen Ausbildungsverträge an Schulabbrecher*innen.

Ziel ist es, weniger Ansprüche an vorige Berufserfahrung und Abschlüsse zu stellen und dafür einen stärkeren Fokus auf Mentalität, Leistungs- und Einsatzbereitschaft zu legen.

Mentalität schlägt Bildung

Ein neuer Recruiting-Ansatz will das nun ändern. Einer der Vorreiter: Finanzdienstleister Klarna. Das Unternehmen ist davon überzeugt, aufgrund falscher Schwerpunkte und Erwartungshaltungen an Bewerber*innen motivierte und vielversprechende Talente zu verpassen. Mit dem sogenannten „Service Accelerator Programm“ will Klarna bis Ende 2022 weltweit mehr als 600 verschiedene Einstiegsmöglichkeiten schaffen. Ziel ist es, weniger Ansprüche an vorige Berufserfahrung und Abschlüsse zu stellen und dafür einen stärkeren Fokus auf Mentalität, Leistungs- und Einsatzbereitschaft zu legen. Bewerber*innen werden künftig nach ihrem Mindset und ihren Ambitionen ausgewählt. Anstelle einer Zeugnissammlung können sie der Bewerbung ein kurzes Video von sich beilegen. Wer einen Job ergattert, kann mithilfe des Konzepts einen individuellen Karriereplan verfolgen. Der Einstieg in das „Service Accelerator Programm“ ist zunächst nur über Positionen in der Serviceabteilung möglich – die späteren Karriereoptionen erstrecken sich jedoch über viele weitere Bereiche.

Die Idee für das Konzept basiert auf einer Aussage aus dem Artikel „Hiring for Attitude“ von Mark Murphy, nach der 89 Prozent der Fehlbesetzungen auf Probleme der Mentalität zurückzuführen sind. Ein handfestes Indiz für Isabelle Backenstoss, Leiterin des Programms bei Klarna, dass die Auswahl neuer Talente nach ihrer Einstellung und Denkweise die Unternehmensvielfalt stärkt und somit Erfolg und Wachstum fördert.

Drum prüfe, wer sich vorschnell bindet

Mithilfe eines solchen Ansatzes ist es sicher möglich, motivierte und begabte Mitarbeitende zu rekrutieren und Personen eine Chance zu geben, die auf dem Arbeitsmarkt kaum eine haben. Jedoch sind die Bedenken der Arbeitgeber nachvollziehbar. Denn der Hauptschulabschluss ist durchaus zu bewältigen – auch für bildungsschwache Personen. Das Vorurteil, dass Schulabgänger*innen keine Lust auf Arbeit haben oder einfach nicht in ein System passen (wollen), trifft sicherlich in einigen Fällen zu. Unternehmen, die bereit sind, Menschen ohne Qualifikation und Berufserfahrung einzustellen, haben die schwierige Aufgabe, sprichwörtlich die Spreu vom Weizen zu trennen. Dazu werden Feingefühl und eine gute Menschenkenntnis benötigt. Arbeitgebern, die sich nicht „nur“ auf ihre eigene Einschätzung verlassen wollen, möchten wir noch folgende Tipps an die Hand geben:

Im ersten Schritt ist es wichtig, den Bewerber*innen genau auf den Zahn zu fühlen: Aus welchen Gründen haben sie die Schule abgebrochen? Sind sie motiviert und lernwillig? Bringen sie durch Praktika oder sogar private Hobbies schon bestimmte Skills mit? Sind sie auf das Gespräch gut vorbereitet? Diese und ähnliche Fragen helfen Ihnen dabei, zu erkennen, ob jemand wirklich arbeiten will und Lust auf den angebotenen Job hat oder aus anderen Beweggründen vor Ihnen sitzt.

Menschen, die keinen Schulabschluss vorweisen können, haben am ehesten Chancen auf einen Beruf mit hohem Praxisanteil. Einerseits geht es hier mehr um Geschick und oft weniger um gute Rechtschreib- oder Rechenkenntnisse und andererseits fehlen in Berufen wie Handwerk, Altenpflege etc. etliche Kräfte. Wenn Sie also eine Kandidatin bzw. einen Kandidaten ohne schulische Qualifikationen ins Auge gefasst haben, weil diese möglicherweise gar nicht so entscheidend für den Job sind, dann sollten Sie ausgiebig die praktischen Fertigkeiten testen. Dies kann im Rahmen eines Praktikums oder eines Probetags geschehen.

Treten Sie frühzeitig mit potenziellen Mitarbeitenden in Kontakt! So haben Sie beispielsweise vor Ausbildungsbeginn Zeit für gewisse Testläufe oder können die Kandidatin bzw. den Kandidaten zu vorbereitenden Maßnahmen anmelden. Gegebenenfalls ist es auch möglich, eine neue Kollegin bzw. einen neuen Kollegen bei einem berufsbegleitenden Abschluss zu unterstützen und im Anschluss eine feste Stelle oder Ausbildung anzubieten. Wer sich hierauf einlässt, bringt auf jeden Fall die nötige Motivation mit.

Fazit

Bereits 2018 machte die Bertelsmann Stiftung darauf aufmerksam, dass Menschen ohne Abschluss von vielen Arbeitgebern ausgenutzt werden. Laut einer Untersuchung übernahm mehr als jeder zweite Mitarbeitende Aufgaben einer gelernten Fachkraft. Im Vergleich zu Kolleg*innen mit gleicher Position und Schulabschluss verdienten sie jedoch zwischen sieben und elf Prozent weniger. Der Vorstand der Stiftung, Jörg Dräger, forderte damals eine neue Anerkennungskultur, die sich an der Tätigkeit und an Fähigkeiten orientiert und nicht an den Schulnoten. Viel Bewegung gab es in diesem Bereich jedoch noch nicht. Wer keinen Abschluss hat, hat es noch immer schwer auf dem Arbeitsmarkt. Vielleicht macht Klarna mit seinem Konzept einen wichtigen Schritt in Richtung Umdenken. Denn eins ist klar: In Zeiten von Fachkräftemangel und unbesetzten Ausbildungsplätzen ist jeder tüchtige und talentierte Mitarbeitende – ganz unabhängig von seinen schulischen Leistungen – ein wertvoller Mitarbeitender.

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